„Verfolgt und umworben“

Andreas Berg sprach über die wechselvolle Geschichte der deutschen Juden

Ulrich Bachmann stellte Andreas Berg als profunden Kenner des Judentums vor – und hatte damit nicht zu viel versprochen.
Ulrich Bachmann stellte Andreas Berg als profunden Kenner des Judentums vor – und hatte damit nicht zu viel versprochen.

„Das Judentum ist mehr als eine Religion. Es gibt Menschen, die nicht religiös sind, die sich sogar selbst als jüdische Atheisten bezeichnen, sich aber dennoch der jüdischen Schicksalsgemeinschaft verbunden fühlen“, erklärte Andreas Berg. Als Referent war er von der Philipp-Kraft-Stiftung zu einer neuen Folge in der Reihe „Völkermühle am Rhein“ eingeladen worden, um über das Thema „2000 Jahre jüdisches Erbe am Rhein – Rück- und Ausblicke“ in der Mediathek zu sprechen. Moderator Ulrich Bachmann stellte Andreas Berg als profunden Kenner aller Facetten des Judentums vor, der sich als Journalist, Kulturredakteur, Filmemacher und Literat intensiv damit auseinandergesetzt habe.

„1938 wurde jüdisches Leben in Eltville ausgelöscht“, rief Andreas Berg dem Publikum die unheilvolle deutsche Geschichte in Erinnerung. Seit dem Mittelalter seien Juden in Eltville nachgewiesen, auch einen jüdischen Arzt habe es gegeben. Die ehemalige Synagoge, der jüdische Friedhof und inzwischen auch viele Stolpersteine sind Zeugnisse der jüdischen Spuren. Auch in anderen Gemeinden im Rheingau hätten Juden gelebt, was ebenfalls durch Dokumente, Gebäude und Friedhöfe belegt werde.

Nach seinen Angaben leben heute 15.000 bis 20.000 Juden in Hessen. Bundesweit seien 118.000 Menschen als Juden in Deutschland registriert. Die Formulierung legt nahe, dass sich nicht alle Juden und Jüdinnen in jüdischen Gemeinden registrieren lassen. Weltweit werde die Zahl der Juden mit 15,2 Millionen angegeben. Jude sei, wer eine jüdische Mutter habe, was auch auf Andreas Berg zutrifft. Kinder jüdischer Väter seien keine Juden, könnten aber zum Judentum übertreten. Auch nichtjüdische Menschen könnten zum Judentum konvertieren. „Aber die Hürden sind hoch und es dauert oft Jahre, bis sie konvertieren dürfen.“ Im Judentum gelte das Verbot der Missionierung.

In der Synagoge werde jedes Jahr in einem einjährigen Lesezyklus die Thora gelesen, die die fünf Bücher Moses, eingeteilt in entsprechende Abschnitte, beinhalte. Auch der Talmud sei ein wichtiges Grundwerk. Die jüdische Religion habe eine sehr diskursive Auslegung. Es gelte: „Zwei Juden – drei Meinungen.“ Dies habe dazu geführt, dass in jüdischen Familien viel diskutiert worden sei, nicht nur über die Religion, sondern auch über andere Lebensbereiche. „Das heißt, dass Kinder in jüdischen Familien schon früh an die Diskurse gewöhnt waren und sich intellektuell vorteilhafter entwickeln konnten, als manche nicht-jüdische Kinder“. Der daraus erwachsene „Neidfaktor“ könnte einer der Gründe für den Hass auf Juden sein, vermutete ein Gast aus dem Publikum. Als eines von vielen Beispielen für bedeutende jüdische Intellektuelle nannte Berg die 1878 in Wien geborene Naturwissenschaftlerin Lise Meitner, die ab 1907 in Berlin mit dem Chemiker Otto Hahn die Radioaktivität erforscht und radioaktive Isotope entdeckt hat. 1938 musste sie vor den Nazis fliehen und konnte in Schweden am Nobel-Institut ihre Forschung fortsetzen.

„Klein-Jerusalem“

Andreas Berg hat zahlreiche Filme mit jüdischem Bezug für den SWR gedreht. Einen davon zeigte er dem Publikum in der Mediathek. Den beeindruckenden Film „Verfolgt und umworben – 2.000 Jahre jüdisches Leben am Rhein“ hatte er im Vorfeld zur Anerkennung der SchUM-Städte Mainz, Worms und Speyer zum UNESCO-Weltkulturerbe im Jahr 2021 gedreht. Diese drei Städte wurden als „Klein-Jerusalem am Rhein“ bezeichnet. „SchUM“ ist ein Akronym aus den drei mittelalterlichen hebräischen Städtenamen. Die Bedeutung und Erhabenheit der mittelalterlichen Gemeinden in SchUM spiegelt sich heute wider in den archäologisch nachgewiesenen und wiederaufgebauten Gebäuden wie auch in religionspraktischen Überlieferungen. Darüber hinaus würdigt Andreas Berg in dem Film auch das Landjudentum und zeigt mit Laufersweiler ein Beispiel einzigartiger Erinnerungskultur, für die sich ein Förderkreis einsetzt. Die Synagoge im maurischen Stil ist die einzige noch ursprünglich erhaltene Synagoge im weiten Umkreis, die als solche zu erkennen ist und heute als ein Ort mit reichhaltigen Kultur- und Bildungsangeboten an die rund 1.000 Menschen jüdischen Glaubens erinnert, die vor 1933 im Rhein-Hunsrück-Kreis ihre Heimat hatten.

Seine intensive Beschäftigung mit dem Landjudentum hat er auch in den Schicksalen seines Romans „Sommer 1934– oder wie der Führer mir meine erste Liebe ausspannte“, verarbeitet. Für sein umfangreiches literarisches Werk wurde Andreas Berg 2019 mit dem Kulturpreis des Rheingau-Taunus-Kreises in der Sparte Literatur ausgezeichnet.

Woher kommt der Hass?

Woher der Hass auf Juden kommt und warum sie im Lauf der Geschichte von Ämtern und Berufen ausgeschlossen wurden, warum sie immer wieder Pogrome zu fürchten und zu erleiden hatten, lässt sich mit Mitteln der Vernunft nicht klären – schon gar nicht der beispiellose und unbeschreiblich grausame Holocaust. Wie aus seinem Film und seinem Vortrag hervorging, gab es immer auch Blütezeiten für die Juden in Deutschland, Zeiten, in denen Juden von den Herrschenden und der Gesellschaft als Bereicherung willkommen geheißen und umworben wurden. Dass es heute in Deutschland für Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben, wieder schwierig, ja sogar gefährlich geworden ist, ist alten Nazis, neuen Rechtsradikalen und islamischen Fundamentalisten zu verdanken, die den brutalen Krieg im Gaza-Streifen für antisemitische Hassparolen nutzen.

Dieses Problem wurde am Ende in den Diskussionen thematisiert und Andreas Berg vertrat nicht die Meinung, dass es sich in Gaza um einen Genozid handele. Er machte jedoch deutlich, dass Kritik am Vorgehen der Regierung Netanjahu nicht als Antisemitismus zu werten sei, denn auch viele Menschen in Israel übten daran scharfe Kritik und gingen dafür auf die Straße. Aber auch schon vor dem 7. Oktober 2023 hätten viele Israelis die Politik ihres Staates kritisiert. So habe er bei seinen Reisen nach Israel Demonstranten auf Märkten gesehen, die Schilder trugen mit Aufschriften, wie „Kauft nichts von Siedlern“ oder „Kauft keinen Wein von den besetzten Golanhöhen“. Aus dem Publikum wurde außerdem der Wunsch geäußert, die jüdischen Spuren in Eltville für die Öffentlichkeit sichtbarer zu machen und mehr über die Geschichte der Eltviller Juden zu erfahren.

Zu Beginn hatte Vatan Akyüz, Vorstandsvorsitzender der Philipp-Kraft-Stiftung, das Publikum begrüßt und die Anliegen und Projekte der operativen Stiftung für diejenigen erläutert, die an diesem Abend zum ersten Mal an einer Völkermühle teilgenommen haben. Zum Abschluss dankte er Andreas Berg mit einem Weinpräsent für den aufschlussreichen Vortrag und Ulrich Bachmann, der auch Mitglied des Vorstands ist, der bisher jede Völkermühle moderiert hat und an diesem Abend nach seiner Einführung das Wort weitgehend dem Referenten überlassen hatte. Dabei wies Vatan Akyüz auch noch auf das neueste Angebot der Stiftung hin: Das Antidiskriminierungs-Center.

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